Heute werfen wir mit Antje Allroggen einen Blick über den Inselrand. Rodrigues, 850 Kilometer östlich von Madagaskar gelegen, ist die kleinste der Maskarenen-Inseln im Indischen Ozean. Wenn man von den zahlreichen noch kleineren Eilanden absieht, die fantasievolle Namen tragen. Eine Landschaft, die Fischer und Vögel poetisch werden lässt.
Reise nach Rodrigues
Ein Schatz, glückliche Schweine und fantastische Sandstrände
Von Antje Allroggen
Das Licht ist gleißend-hell. Ich blinzle in die Ferne und suche vergeblich nach dem Horizont. Doch die Sonne lässt den Übergang von Himmel und Meer nur erahnen. Eine rot-weiß gestreifte Markise, die über das Boot gespannt ist, bricht die unfassbare Schönheit dieser sphärischen Landschaft. Sie versichert mir, dass ich wirklich hier bin und nicht träume. Meine Hand halte ich in das lauwarme Wasser des Indischen Ozeans. Von unserer Piroge aus kann man bis auf den Grund des Meeres schauen. Das Wasser ist nur einen halben Meter tief. Um sich fortbewegen zu können, stößt sich der Bootsfahrer mit einem langen Stock immer wieder vom Grund ab – so, als ob es den venezianischen Gondoliere in die Einsamkeit des Indischen Ozeans hinausgetrieben hätte.
Die Überfahrt dauert dennoch etwas mehr als eine Stunde. Die Zeit gleitet von Welle zu Welle, dann sehen wir eine kleine Insel im Ozean schwimmen, die von weißem Pudersand umsäumt wird. Im Inselinnern, das vom Meer aus schon zu erkennen ist, wachsen Filao-Bäume. Ich freue mich auf den Schatten und die Erholung vom hellen Sonnenlicht, von dem sich meine tränenden Augen jetzt erholen müssen. So sehr schmerzt die Helligkeit. Wir nehmen unser leichtes Schuhwerk in die Hände und steigen mit nackten Füßen aus der Piroge. Erst als ich sie verlasse, sehe ich, dass ein Spruch in roter Farbe entlang der Querseite des Bootes geschrieben steht:
„Das Boot führt mich zu friedlichen Gewässern, es baut meine Seele wieder auf.“
In dieser Meereslandschaft wird jeder Fischer zum Poeten. Vor einigen Jahrhunderten mussten auch Piraten hier an Land gegangen sein. Die letzten Meter durch das flache Wasser watend, über einen unberührten meterlangen Sandstrand, auf der Suche nach Trinkwasser, Schildkröten und Vogeleiern oder auch einfach nach dem Glück, eine unbewohnte Insel zu betreten. 1690 hatte sich der Hugenotte Francois Léguat von Holland aus auf seinem Schiff Hirondelle auf den Weg gemacht. Auf La Réunion wollte er ein neues Leben beginnen. Da aber die Franzosen die Insel noch nicht verlassen hatten, nahm er Kurs auf die unbewohnte Insel Rodrigues und erkundete anschließend auch Mauritius. Seine späteren Aufzeichnungen geben Auskunft über die ursprüngliche Flora und Fauna der beiden Inseln: Er lernte den Dodo, der auf Mauritius zu Hause war, ebenso kennen, wie den Solitär, einen 90 Zentimeter großen Vogel, der ein naher Verwandter der mauritischen Dronte war, ebenso wie er nicht fliegen konnte und auf Rodrigues beheimatet war. Dodo und Solitär konnten von den Menschen leicht eingefangen werden. Francois Léguat und seine Männer schätzten vor allem das zarte Fleisch der Jungvögel. Gegen 1760 starben beide Vogelarten aus.
„Vor dem Bug erscheint eine Insel: die Insel der Tölpel. Noch ehe wir die Vögel sehen, hören wir ihre Stimmen. Es ist ein stetes Dröhnen, das den Himmel und das Meer erfüllt. Die Vögel haben uns gesehen, sie überfliegen die Piroge. Seeschwalben, Albatrosse, schwarze Fregattvögel und die riesigen Tölpel, die uns kreischend umrunden. Noch nie habe ich so viele Vögel gesehen. Sie sind zu Tausenden auf den vom Guano weißen Felsen, sie tanzen, fliegen auf und ruhen aus, und ihr Flügelschlag rauscht wie das Meer.“
Erzählt der Protagonist aus Jean-Marie Gustave Le Clézios Roman Der Goldsucher einen Ausflug, den er mit seiner Geliebten von Rodrigues aus auf eine Insel unternimmt; vielleicht handelt es sich dabei um die heutige Ile aux Cocos. Das Buch erzählt die Geschichte einer Suche; einer Schatzsuche, aber auch der Suche nach den eigenen Wurzeln, die den Erzähler der Geschichte von Mauritius aus nach Rodrigues bringt.
Auf der Ile aux Cocos, auch ile des oiseaux genannt, regieren die Vögel, nicht der Mensch. Als immer mehr Vogelarten auf den Maskarenen vorm Aussterben bedroht waren, schaffte man hier für vier endemische Vogelarten eine Zuflucht, erklärt Stéphane Rex, der für eine kleine Reiseagentur auf Rodrigues arbeitet und von dort aus Touristen in die Vogelwelt der Ile aux Cocos begleitet:
„Früher haben die Einheimischen der Insel die Vogeleier verspeist. Seit 1982 ist die Insel ein streng kontrolliertes Naturschutzreservat. Niemand darf die Eier oder die Vögel noch berühren. Sollte es doch einmal jemand tun, darf derjenige, der sich nicht an das Verbot gehalten hat, umsonst einige Nächte im Hotel von Rodrigues verbringen. Kostenlose Unterkunft mit Verpflegung, die Füße im Wasser.“
Während Stéphane uns auf eine Vogelart aufmerksam macht, die auf dem Boden nistet, spannt sich eine aus La Réunion stammende Touristin ihren Regenschirm zum Schutz gegen die Mittagssonne auf. Sofort macht es sich ein Vogel darauf bequem.
Keine der hier nistenden Vogelarten ist so bunt, wie ich es mir in meiner Vorstellung ausgemalt hatte: keine Papageien oder Paradiesvögel befinden sich darunter. Diese hier haben ein tiefschwarzes Gefieder und schauen uns Besucher sogar ein wenig feindselig an.
„Diese Vogelart nennt man die Yéyés. Sie haben einen weißen Körper, am Hals sind sie weiß und schwarz. Sie leben immer im Sand und legen auch ihre Eier auf dem Sand ab. Sie misstrauen den Menschen, weil sie so schlechte Erfahrungen mit ihnen gemacht haben.“
Im 16. Jahrhundert gab es auf der Insel auch Kokospalmen, sie gaben der ile aux cocos ihren Namen. Früher nannte man die Vogeleier auf Kreolisch auch „Coco“, erklärt uns Stéphane. Das mag ein weiterer Grund dafür gewesen sein, wie die kleine Insel zu ihrem Namen kam. Wir lassen den Vögeln ihre Ruhe und kehren in das Insel-Haus zu einem Mittagessen ein. Es gibt Fischkopf und Karotten, Papayasalat und eine typisch rodriguisch-scharfe Sauße.
Am nächsten Morgen holt uns aus unserem Hotel in Rodrigues ein unglaublich gut gelaunter Mann zu einer Rundfahrt über die Insel ab. Kurz nachdem wir alle Platz genommen haben, startet Kennedy den Motor und beginnt damit, uns alles über Rodrigues und seine Einwohner zu erzählen. Wir fahren durch eine karge, waldarme Insellandschaft, in der die Bauern ihr Vieh noch mit Karren über die Felder ziehen, die Frauen selbst geflochtene Strohhüte tragen und Schweine sich aus den Haustüren hinaus in die kleinen Gemüsegarten bewegen.
„Die Rodriguer sind sehr traditionelle Menschen. Jeder hat hier seine eigene Kuh, sein Schaf, sein Schwein zuhause.“
„Haben Sie auch ein Schwein?“
„Ja, ich habe zwei Schweine. Die Schweine sind sehr nützliche Tiere. Wir geben ihnen die Küchenreste, und dann verkaufen wir sie. Damit können wir etwas Geld auf die hohe Kante legen.“
Kaum jemand besitzt auf der Insel mehr als ein Schwein und ein Haus. Von der Landwirtschaft alleine können nur noch die wenigsten auf Rodrigues leben, erzählt uns Kennedy. Die Erde sei zu steinig, um sie mit der Hand bearbeiten zu können. Maschinen besitzen hier nur die wenigsten.
„Die Leute leben auch vom Oktopus-Fang. Bei Niedrigwasser ist das spektakulär, wenn die Fischer Hunderte von Metern vom Strand entfernt zu Fuß bis zum Korallenriff hinausgehen. Sie tragen dabei immerhin Stiefel, damit sie wenigstens keine nassen Füße bekommen. Dort suchen sie nach den Tintenfischen, um sie etwas später in der Küche für eine Mahlzeit zuzubereiten. Wir alle üben mehrere Berufe gleichzeitig aus. Wir züchten Schweine, haben Zicklein, eine Kuh, einen Garten, gehen fischen, wir machen irgendwie alles auf einmal.“
Am Strand sehen wir immer wieder Oktopusse an Holzgestellen zum Trocknen hängen. Etwa 800 Tintenfischstecherinnen sollen sich auf Rodrigues heute noch bei Niedrigwasser zum Fangen der Oktopusse in die Korallenriffe begeben. Kleine Fischerboote bringen die Frauen, bewaffnet mit ihren Metallspeeren, einem Strohhut und ihren Gummistiefeln, zu den Korallenriffen und holen sie, wenn es anfängt zu dämmern, wieder ab. Nirgendwo auf der Welt gibt es so viele Frauen, die auf den Oktopus speeren. Eine gefährliche Jagd, denn überall in den Felsritzen kann hier der Steinfisch locken, dessen Biss tödlich sein kann.
Unsere Fahrt über die Insel führt uns tatsächlich in einen kleinen Stau vor Port Mathurin, der Hauptstadt von Rodrigues. Wir schieben uns in das wimmelige Gedränge, besuchen den kleinen Markt, erwerben Strohhüte mit fröhlich-bunten Bändern, die die Frauen der Insel aus den Vacoas-Blättern binden, kaufen mehrere Gläser mit der typischen Gewürzpaste, und gehen Mittagessen im Restaurant „Aux 2 frères“. Den einen der beiden Franzosen-Brüder hatten wir bereits in der Hauptpoststelle der Insel getroffen; neben uns war er der einzige Weiße gewesen. Nun sitzen wir auf dem Balkon des kleinen Restaurants und bekommen einen erstklassigen Palmensalat serviert. Dazu trinken wir einen Cocktail aus Vacoas-Früchten. Der Vacoas-Baum war hier lange Zeit vorm Aussterben bedroht. Inzwischen ist er auf der Insel von der Rodrigues Wildlife Foundation wieder angepflanzt worden, ebenso wie ein Waldstück im Innern der Insel. Mit der Wiederaufforstung soll verhindert werden, dass der rodriguische Boden noch mehr als bisher erodiert. Die Wurzel dieser Frucht diene als Pinsel, und die Kerne kann man essen. Sie schwimmen in unserem Glas und schimmern grünlich. Die Rodriguer selber meiden diese Frucht jedoch, erzählt uns Kennedy:
„Auf der Insel La Réunion isst man die Vacoas-Kerne. Aber hier nicht. Die Leute hier sind sehr abergläubisch. Sie sagen, dass, wenn man die Kerne dieser Frucht isst, man noch ärmer wird.“
Die Einheimischen der Insel sind nicht nur sehr abergläubisch, 97 Prozent von ihnen sind bekennende Katholiken. Wohl so erklärt sich, dass sich im Landesinnern von Rodrigues die größte katholische Kirche des Indischen Ozeans befindet. Wohl alle Insulaner waren an ihrem Bau beteiligt.
Drei Männer fegen den Vorplatz der Kirche mit Reisigbesen, bis kein Blättchen mehr zu sehen ist. Saint Gabriel wirkt im Verhältnis zur kleinen Insel gewaltig. Dennoch musste Papst Johannes Paul II., als er Rodrigues 1989 besuchte, mit den Gläubigen auf ein Fußballfeld ausweichen, so groß war der Zulauf. Ein wenig liegt die Kirche da etwas abschüssig im Wald, als wäre man gerade zu Besuch in Maria Laach.
Wir setzen uns wieder in unser Auto, und halten kurz an, um in der besten Metzgerei etwas Schinken zu kaufen. An der Fassadenwand, die in einem fröhlichen Gelb gestrichen ist, hängen Würstchen an metallenen Ringen und eine Preistafel: Wurst 200, Schweinepfote 40, Schweinekopf 45 Rupien. Dann machen wir uns auf nach Anse aux Anglais. Die Geschichte dieses Ortes, im Norden von Rodrigues gelegen, geht auf die Landung britischer Truppen im Jahr 1809 zurück.
„Es gibt sogar ein Buch, das in Anse aux Anglais spielt, von Jean-Marie Gustave Le Clézio, das von seinem Großvater erzählt, der unter dem Goldfieber litt. Jeder suchte hier nach Gold, nach dem Schatz. Sie haben ihn am Fluss gesucht, dort, am Roseau-Fluss.“
Kennedy zeigt mit dem Finger auf dem Wegrand, an dem kleine Kratzspuren und Löcher zu erkennen sind. Ja, hier habe Le Clézios Großvater verzweifelt nach dem Schatz gesucht, mit einer kleinen Entourage an Einheimischen, die ihm dabei behilflich war. Ja, so war es, ganz bestimmt!
Am nächsten Tag müssen wir mit einem kleinen Propellerflugzeug Rodrigues wieder verlassen. Unsere Reise hierher war eine Reise in die Vergangenheit, eine Suche nach Schätzen und der ursprünglichen Schönheit der Inseln im Indischen Ozean. Man kann vom Paradies träumen, hier aber kann man es tatsächlich noch erleben. Aus dem Flugzeug wird Rodrigues zunehmend kleiner. Die kleine Tochter winkt der Insel lange hinterher. Der Himmel ist klar und bestechend blau, verstörend schön. So wie der Erzähler aus dem Goldsucher schließe ich die Augen, öffne sie wieder,
„Und ich sehe das Meer. Es ist nicht das smaragdgrüne Meer, das ich früher sah, in den Lagunen, auch nicht das schwarze Wasser vor der Trichtermündung des Tamarin-Flusses. Es ist ein Meer, wie ich es noch nie gesehen habe, frei, wild, von schwindelerregendem Blau, ein Meer, das den Schiffsrumpf hochhebt, langsam, Welle auf Welle, schaumgesprenkelt, von Funken durchschossen.“
Über die Autorin:
Antje Allroggen hat an den Universitäten Bonn und Nancy (Frankreich) Kunstgeschichte, Philosophie und Komparatistik studiert. Seit dem Jahr 2000 arbeitet sie als Kultur– und Reisejournalistin für diverse ARD-Hörfunkanstalten, vor allem für den Deutschlandfunk. Journalistische Stipendien führten sie unter anderem nach Marokko und an die Duke University in North Carolina / USA. Mit ihrem Mann und ihren beiden Töchtern (zwei und acht Jahre) lebt sie für ein Jahr in Grand Baie/ Mauritius. Vielen Dank an Frau Allroggen und den Deutschlandfunk, die uns erlauben, die großartigen Geschichten und Beiträge für unsere Leser zu veröffentlichen!